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Beitrag im St. Galler Tagblatt über Sportmedizin und Olympiapläne

Hanspeter Betschart Berit Sportclinic

«Nein, Fussballer sind nicht wehleidiger»: Zwei Sportärzte über Klischees, Olympiapläne und Schweizer Nachholbedarf

Beitrag St. Galler Tagblatt, 12.11.2025

Die medizinische Vorbereitungen für die olympische Wintersaison laufen auf Hochtouren. Mittendrin zwei Ostschweizer Sportärzte. Hanspeter Betschart, der das Medical Team leitet und sein Vorgänger Patrik Noack erzählen von sportmedizinischen Klischees, Peinlichkeiten – und sportpolitischem Nachholbedarf gegenüber anderen Nationen.

Zuerst die fiese Frage: Welche Sportler sind die wehleidigsten?

Noack: (lacht)

Anders gefragt: Bei welchen Sportarten gibt es für euch am meisten Arbeit?

Noack: Wohl in «High-Impact»-Sportarten wie Eishockey oder «High-Speed»-Sportarten wie Ski-Alpin/Ski-Cross. Je nach Bedingungen aber gibt es auch bei Langläufern viel zu tun, wie in Pyeongchang 2018, wo es so kalt war und Atemwegsbeschwerden aufkamen.

Betschart: Für den Zuschauer tönt ja ein Freestyler mit Knieverletzung weit dramatischer als eine Langläuferin, die am Morgen mit einem Kratzen im Hals aufwacht. In Sachen Medaillenchancen kann aber beides genau gleich schlimm sein. Wichtig ist, dass ein Olympiaarzt da ist, der beides ernst nehmen und beurteilen kann. Wenn du nur bei Knochenbrüchen helfen kannst, bist du fehl am Platz. Es gibt manchmal komplexere Themen.

Noack: Nur als kleines Beispiel: Im Sommer in Tokio war das mit den Klimaanlagen grosses Thema. Einerseits fördern sie Infekte, gleichzeitig ist die Schlafqualität deutlich grösser, wenn runtergekühlt ist. Da brauchte es fast für jede und jeden eine Spezialberatung. Oder dann kommt da einer, der nach dem Duschen nichts mehr hört wegen einem Ohrenpfropf, der dann rausgespült werden muss. Oder das Hotelwaschmittel führt zu einem Hautausschlag.

Hanspeter Betschart ist Chefarzt der Berit Sportclinic, Facharzt für Allgemeine Innere Medizin und Sportarzt. An den Winterspielen in Mailand 2026 ist er als Chief Medical Officer von Swiss Olympic zum zweiten Mal hauptverantwortlicher Mediziner des Olypmiateams. Der 40-Jährige ist zudem Chief Medical Officer bei Swiss Sliding, verantwortlicher Verbandsarzt von Ski Nordisch und von Swiss Cycling. Patrik Noack ist Sportarzt im Medbase Sports Medical Center Abtwil. Er hat acht Olympische Spiele als Chief Medical Officer hinter sich, auf die Sommerspiele in Paris hin übergab er an Betschart. Der 51-jährige ist Chief Medical Officer von Swiss Athletics und Swiss Cycling. Auch bei den Schwimmern und Triathleten ist er Verbandsarzt. Beide Sportärzte betreuen in der Ostschweiz viele Athletinnen, Athleten und Sportteams, teilweise in enger Kooperation. (rst)

Herr Betschart, Sie waren einst Teamarzt des FC St.Gallen und betreuen zum Beispiel den SC Brühl. Kommen wir halt doch zum Klischee: Sind Fussballer wehleidiger als andere Sportler, zum Beispiel Veloprofis?

Betschart: Nein. Ich habe Hochachtung für die Fussballer, drei Partien in sieben Tagen, das sind riesige Belastungen. Und es ist nicht so einfach vergleichbar mit dem Tour-de-France-Fahrer, der zwar jeden Tag aufs Velo steigt, aber keine Zweikämpfe absolviert. Aber klar gibt's von Person zu Person grosse Unterschiede. Wie auch in der Gesellschaft sonst. Der Bergbauer kommt weniger schnell zum Arzt als der Städter.

Noack: Ganz grundsätzlich sind nicht etwa wehleidige Sportler ein Problem, sondern eher jene, die sich nicht oder zu spät melden.

Zum Beispiel?

Betschart: Ein Langläufer, der sich sagt, «es geht schon», obschon es ihm etwas unwohl ist, fällt unter Umständen die halbe Saison lang aus danach. Wir erziehen die Athleten eher dazu, sich bei ersten Anzeichen eines Problems zu melden. Ich habe auch schon erlebt, dass Athletinnen oder Athleten Angst hatten zu mir zu kommen, weil sie dann in Trainings gefehlt hätten und weil dies die Trainer als wehleidig hätten interpretieren können. Das bringt nichts und gefährdet die Gesundheit der Sportler.

Mussten Sie auch schon sagen: Warum hast du dich nicht früher gemeldet?

Noack: Oft. Ein Beispiel aus Zeiten, als Athleten die Ruheherzfrequenzen noch auf Millimeterpapier aufzeichneten: Ein Langläufer dokumentierte über Wochen ein deutliches Übertraining, kam aber nicht zu mir. Er hat alle Warnzeichen negiert.

Weil er sie nicht wahrhaben wollte.

Noack: Selbst sein sportpsychologischer Fragebogen war eine Katastrophe. Aber er stand im Herbst der Karriere, wollte noch einmal Vollgas geben.

Wer war das?

Noack: (lacht)

Frauen sind härter im Nehmen als Männer, oder?

Noack: Das würde ich so nicht sagen.

Die olympische Wintersaison beginnt, welche Aufgaben stehen für Sie derzeit an?

Betschart: Hinsichtlich der Winterspiele gibt es noch sehr vieles abzuklären. In Sachen Organisation ist man in Italien spät dran. Erschwerend kommt dazu, dass alles sehr dezentral ist, dass die Sportstätten sehr weit auseinander liegen, von Mailand über Cortina, Bormio oder Livigno.

Wo liegt die Schwierigkeit?

Betschart: Es sind, als Beispiel, mehr Spitäler involviert als sonst. Wo gibts MRI? Wo finden wir welche Infrastruktur? Welches Personal senden wir wohin? All das ist komplizierter als noch in Peking oder Pyeongchang, wo die Wege kürzer waren. Ein Vorteil ist dafür die Nähe zur Schweiz.

Rennen euch die Olympiasportler schon den Laden ein - mit nervösen Fragen?

Betschart: Das nicht, aber es gibt bereits zu tun, jetzt geht es vor allem darum, Infekte zu vermeiden. Wir geben Empfehlungen für Covid- und Grippeimpfungen ab, definieren mit Trainern das richtige Zeitfenster dafür. Dann geht es ums Auffrischen der Infektprophylaxe. Während der «Covid-Spiele» in Peking und Tokio lernten wir, wie wertvoll es ist, in der gut geschützten Bubble zu bleiben. Vieles wollen wir aufrecht erhalten, auch wenn die Sensibilisierung dafür während Covid einfacher war. Wenn Serviceleute denken, sie können am Abend in Predazzo noch ins Pub, funktioniert das nicht. (lacht)

Patrik Noack, sie haben ihr Amt als Chefmediziner des Olympiateams vor zwei Jahren abgegeben, sind aber weiterhin invoviert. Milano 2026 erleben Sie zu Hause. Fehlt ihnen das Kribbeln nicht?

Noack: Nein, ich habe das Schweizer Team während acht Olympischen Spielen betreut, begonnen mit Peking 2008. Die beiden «Covid-Games» in Tokio 2021 und Peking 2022 haben etwas «genügelt». Und mit Hanspeter stand bereits für Paris 2024 ein Kollege bereit, der schon länger dabei ist.

Aber Sie helfen dennoch mit?

Noack: Ich bleibe Teil des medizinischen Teams, als «health performance officer» leite ich die Task Force mit Themen wie Sporternährung, Sportpsychologie, Trainingswissenschaften, das aber auch unabhängig von Olympischen Spielen. Wir pflegen einen regelmässigen Austausch mit anderen Nationen wie Schweden, Norwegen, Holland, Belgien, Brasilien.

Was lernt man dabei?

Noack: Dass alle anderen auch nur mit Wasser kochen. Wobei man sich natürlich auch fragt, ob zum Beispiel die Norweger irgendetwas in der Hinterhand haben, das sie nicht sagen wollen (lacht).

Betschart: Welche Ansätze die Norweger gerade im nordischen Skisport haben, würde man schon gerne genauer wissen, das stimmt. Doch der Austausch bei diesen Treffen wird immer offener, die internationale medizinische Zusammenarbeit hat Drive aufgenommen, da gibts kein Gärtchendenken, der Sportler steht im Mittelpunkt. Aber als Schweizer spürt man halt auch, dass andere Nationen mehr Ressourcen haben.

Noack: Holland und Norwegen sind die extremen Beispiele. In Norwegen wird das staatliche Zentrum «Olympiatoppen» betrieben, in Holland jenes in Pappendal, mit mehreren fest angestellten Sportärzten, während wir unsere Einsätze oft nebenher vorbereiten.

Ist es eine Mentalitätsfrage, dass dies in Norwegen oder Holland so läuft?

Noack: Eine Mentalitätsfrage, staatlich getragen. Unser föderalistisches System macht es auch nicht einfacher. Im Olympiatoppen wird der Elitesportler schon früh in seiner Karriere medizinisch einheitlich betreut - Ernährung, Psychologie, Physiologie. Bei uns arbeitet jeder in seinem Dörfli oder Täli. Das mag seine Berechtigung haben. Aber da müssen wir uns schon fragen, ob wir künftig noch um die Medaillen mitreden wollen.

Betschart: Wenn ich bei Swiss Ski ein Projekt lancieren will zur Infektprophylaxe, kämpfe ich gegen das Projekt an, das schnellere Ski zum Ziel hat. Aber eben: Swiss Olympic sind da die Hände gebunden, wenn nicht mehr staatliche Gelder fliessen. Man kann nicht die Medizin aufstocken und in anderen Bereichen Stellen streichen.

Noack: Das Föderalistische zeigt sich ja auch daran, dass die Sportverbände viele Budgetfreiheiten haben. Eine Zeitlang waren die Zahlungen von Swiss Olympic an die Sportverbände pflichtgebunden: ein Tausender für die Sportpsychologie, ein Tausender für Ernährung, und so weiter. Das gab aber eine Zetteliwirtschaft, es gab Quittungen zu kontrollieren - und so wurde das wieder gestrichen. So geriet die medizinische Betreuung wieder in den Hintergrund, weil die Verbände nun wieder eher Geld für einen weiteren Assistenzcoach ausgeben oder fürs Trainingslager statt für medizinische Belange. Da sind andere Sportnationen stringenter organisiert.

Aber in der Leichtathletik zum Beispiel hat die Schweiz ja extrem aufgeholt gegenüber anderen Nationen.

Betschart: Das ist richtig. Dort gab's einen Boom. Zudem profitieren Eliteathletinnen und -athleten auch davon, dass Ausrüster ebenfalls medizinische Ressourcen stellen, Unternehmen wie Puma, Nike oder On wollen auch ihre Medaillen holen. Das verringert den Abstand zu anderen Nationen grundsätzlich. Aber auch dort gäbe es noch viel medizinisches Potenzial.

Noack: Eine Analyse nach den Sommerspielen in Paris zeigte, dass wir in Sachen Sporternährung im Rückstand sind, über alle Disziplinen gesehen. Wir brachten immer wieder an, dass wir ein gutes Ernährungs-Coaching brauchen und dass uns das etwas wert sein sollte. Da stehen wir an. Da sind andere Nationen weiter.

Ist in Sachen Ernährung nicht jeder Eliteathlet ohnehin sattelfest?

Noack: So einfach ist es nicht. Nehmen sie als Beispiel die Kohlenhydrataufnahme. Sie liegt normalerweise bei rund 60 Gramm pro Stunde, Veloprofi Stefan Küng hat diese auf 150 raufgeschraubt. Doch das musst du konsequent und angeleitet trainieren. Auch beim Spitzensportler reicht es nicht, einfach ein Merkblatt abzugeben.

Welche Unterschiede gibt es in der Behandlung von Hobby- und Profisportlern?

Noack: Den Hauptunterschied sehe ich im Reha-Training, wo ein Profi einfach viel mehr Zeit investieren kann. Das unterschätzen Amateure oder semiprofessionelle Sportler oft.

Betschart: Grundsätzlich aber profitieren Hobbysportler von den Eliteathleten, was das medizinische Wissen angeht.

Seid ihr beiden auch Fans? Und an voderster Front, wenn es Medaillen zu feiern gibt?

Betschart: Immer zuvorderst (lacht). Nein, aber die Affinität zum Sport ist natürlich riesig, sonst wären wir nicht Sportmediziner geworden. Wir fiebern mit, halten uns aber im Hintergrund. Da ist eher die grosse Freude für die Athletin oder den Athleten, wenn alles aufgeht.

Noack: Als Ditaji Kambundji an der Leichtathletik-WM Gold gewann, wartete der gesamte Staff, bis sie um halb zwei im Hotel auftauchte, um zu feiern. Da bin ich natürlich auch dabei, es kann ja nicht sein, dass eine Weltmeisterin nach Hause kommt - und alles schläft.

Betschart: Als mich Leute auf Feier-Bildern in Paris sahen, fragten sie mich: Hast du schöne Ferien gehabt? Ich sehe diese Momente aber als Lohn. Es ist ein Privilieg, dabeizusein. Eindrücklich finde ich die ruhigen Momente bei der Dopingkontrolle, wenn der Rummel weit weg ist, man mit der Athlethin oder dem Athleten ein paar Sätze in Ruhe reden kann - ob Erfolg oder Misserfolg. Wenn man in Pyeongchang neben Bobfahrer Rico Peter sitzt, der gerade die Medaille knapp verpasst hat, geht es auch darum, die richtigen Worte zu finden.

Welches waren Ihre grössten Olympia-Momente bisher?

Betschart: Für mich der Dreifach-Sieg der Mountainbikerinnen in Tokio.

Noack: Da gab es einiges. Nicola Spirigs Olympiasieg in London 2012, weil ich sie seit 2005 mitbetreut hatte, den ganzen, schwierigen Weg kannte und sie dann zum Sieg sprinten sah. Und im Winter waren es wohl Dario Colognas Medaillen, 2014 nach der Verletzung - vor allem aber die Goldmedaille 2018, als niemand mehr damit rechnete.

Gibt es Sportarten, die medizinisch kaum zu tun geben?

Betschart: Nein, wir haben mit allen Olympiasportlerinnen und -sportlern zu tun. Und natürlich sind wir auch auf alle Sportarten vorbereitet. Wir müssen auch wissen, dass im Judo mit blutenden Wunden nicht weitergekämpft wird, nur als Beispiel. Klar haben wir grössere Affinitäten zu gewissen Sportarten - aber wir interessieren uns für alle.

Noack: Und wenn ich mich irgendwo nicht auskenne, hilft ja auch schnelles Googeln. Sonst kann's peinlich werden. Ich habe schon erlebt, dass ein Physiotherapeut die Athletin fragte: «Und, welche Sportart betreibst du?» Vor ihm stand Mujinga Kambundji.


Orginalbeitrag St. Galler Tagblatt, 12.11.2025